Karl Müller: Über die Schönheit und den Verzehr der Forelle.
Peter Reutterer: World Wide und auf der anderen Seite. Gedichte mit Geschichten. Gosau: Arovell Verlag 2016, 184 Seiten (Rezension)

Mit seinen „Gedichten und Geschichten“, die Peter Reutterer in seinem neuen Sammelband „World Wide und auf der anderen Seite“ zusammengefasst hat – es handelt sich um etwa 140 Beispiele prosanaher Lyrik – führt er eine Reihe von ähnlichen Sammlungen weiter, die er mit „Auf den Punkt“ 2012 begonnen und 2014 mit „Unter dem Himmel und in Berlin“ fortgesetzt hat. In den letzten Jahren wandte er sich als sensibler Beobachter und mit differenzierendem Blick ausgestatteter Zeitgenosse den „kleinen“ literarischen Formen zu. Seine Notate sind manchmal mit überraschenden Pointen versehene Ergebnisse einer reflexiven Weltwahrnehmung, die in die Ritzen des Alltags blickt. Dabei weiß sie hinter den harmlosen Fassaden des Verhaltens und der Sprache das Abgründige, das Verlogene, Brutale und Nicht-Homogenisierbare zu entdecken, hinter dem scheinbar Natürlichen das Lächerliche, hinter dem schönen Schein ein anderes, ein oft beklemmendes menschlich kaltes Sein, auch Beziehungsdramen. Die LeserInnen der Gedichte-Geschichten Reutterers dürfen sich über eine Art literarischer Schule des präzisen und des oft sarkastischen bis satirischen Sehens freuen. Nur selten halten die meist einfachen Sätze ungetrübte Glücksmomente fest. In insgesamt vier Abteilungen hat Reutterer seine Beobachtungen gegliedert – was dem Autor so alles „In der Nähe“, „In der Ferne“, „Überall“ und auch „Intim“ zu- und aufgefallen ist. Besonders abgesehen hat es der Autor – meist mit sarkastischem Unterton, dann aber auch wieder mit gelassener Ruhe – auf das entfremdete Verhältnis vieler Zeitgenossen zu Natur und Tier, auf massenmediale Konstruktionen dessen, was angeblich das Gute und Wertvolle wäre, auf massenmediale Favorisierungen des Nebensächlichen statt der Wiedergabe des Substantiellen, auf Erscheinungen des platt Nationalen und der Doppelmoral, auf Mann-Frau-Beziehungen, auf das bewusstseins- und geschichtslos tradierte, kitschige Heimat-Gerede und die „grassierende Weihnachtszeit“, auf die sich so harmlos gebenden Fratzen der Kapitalisierung unserer Welt zur höheren Ehre des Mammon in Gestalt kalkulierender Geldmacher, auf eines zwar nichts zu sagen habenden, aber sich medial aufplusternden leeren Expertentums oder auch auf subkutan brodelnde Ressentiments und sich tarnen wollende Herrschaftsmechanismen und industriell konstruierte Glücksversprechen. Viel auf den ersten Blick Unauffälliges, was man dem vergänglichen Zeitgeistigen zuordnen mag, kommt dem Autor vor seine unter die jeweiligen Oberflächen blickende Linse. Es gibt aber auch scheinbar Tröstliches – inmitten des Aberwitzes und der Täuschungsmanöver der Welt. Wohl nicht zufällig lässt Reutterer seine kleine, aber feine Sammlung folgendermaßen ausklingen:

„Wenn sich der Nebel / noch am Vormittag lichtet / blendet die blitzende Sonne / tief in die Veranden der Häuser herein // und mit größtem Vergnügen zieht eine Ente / quer über die Bucht und freut sich / am Licht und der Wärme im Gefieder / während eine zweite munter / ihr auf dem Seespiegel nachfolgt // und ich das Fenster eilig / der kalten Winterluft öffne / und meine Stirn der Vormittagssonne /selbstvergessen freudvoll entgegen halte // als müsste ich niemandem mehr / die Stirn bieten /als dem was ist / und das / in schönen Sätzen.“ Der irreale Konjunktiv bleibt nicht zufällig stehen, weil der Verfasser wahrscheinlich den dekadenten Zustand eines um sich greifenden Bewusstseins nicht vergessen kann, das etwa dem Staunen über die makellose Schönheit von Fischen am Grund eines klaren Alpensees mit dem „folgerichtigen“ und harmlos daherkommenden Vernichtungswunsch entgegnet, „eine Forelle beim Abendessen / im Hotel bestellen“ zu wollen. Reutterers „Gedichte und Geschichten“ sind meist von dieser letztlich zarten Qualität, unaufgeregt, leise, unaufdringlich, aber trefflich.

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